March 5, 2011

Ignatianische Schuldverstrickung im Weltmaßstab



Stefan Kiechle SJ: Wissen was stimmt – Die Jesuiten pt 2

pt 1 SJler sind die, die wissen was stimmt
pt 3 Irdische Bindung lediglich zum General(sekretär)
pt 4 Docta pietas – intellektualisierter Schriftglaube


S. 48 f.) Dialektische Akzentverschiebung bei Millionen Exerzitanten

Zunächst – Ignatius nennt diesen ersten Schritt "Prinzip und Fundament" – schaut der Exerzitant auf sein Leben zurück, in Dankbarkeit und Freude: wie er geschaffen und von Gott geführt wurde, wie viele Dinge und Gaben er von Gott bekam, wie er sich ihm im Gebet vertrauensvoll öffnen kann. Bei der Betrachtung der "Dinge" der Welt bemerkt er wohl schon eine Ambivalenz: dass er sie zu Gutem nutzen sollte, dies aber nicht immer getan hat. Ignatius sagt, man solle sich "indifferent" machen. Das Wort meint bei ihm nicht, wie heute meist, "gleichgültig", sondern es bezeichnet die innere Freiheit: Man gebraucht die Dinge, insoweit wie zu Gutem nützen, und lässt sie weg, insofern sie hindern, das Gute zu erstreben, oder gar Böses schaffen.
Im zweiten Schritt bedenkt der Exerzitant die dunklen Stellen seines Lebens: Verletzungen und Ängste, Versagen, Brüche, Schuld. Ignatius legt den Akzent – hier ist er Kind seiner Zeit – stark auf die Sünde, heute ergänzt man diese Sicht dadurch, dass erlittenes Böses eine größere Rolle spielt. Der Mensch ist Opfer und Täter von Bösem, und beides oft in enger Wechselwirkung. Ein Blick auf die geschichtliche und soziale Verflechtung des Bösen hilft dem Exerzitanten, sich selbst als Teil einer globalen Schuldverstrickung zu begreifen.


S. 50 ff.) Prinz Jesus auf Kriegspfad

Das Leben Jesu wird verinnerlicht – mit Blick auf ihn prägt und gestaltet der Exerzitant sein Leben. Wenn man vor Lebensentscheidungen steht, ist hier der Ort, diese mit Blick auf Jesus zu bedenken und im Gebet Hilfe und Klarheit zu erbitten. Man betrachtet auch, wie ein König seine Ritter zum Kriegszug auffordert, und sieht darin Christus, der seine Jünger und so auch den Exerzitanten in seine Nachfolge ruft.
Man stärkt die Bereitschaft, sein Leben zur Verfügung zu stellen und sich von Christus zu Aufträgen senden zu lassen.

Die "dritte Woche" thematisiert das Leiden und Sterben Jesu: Der Exerzitant schaut nochmals auf das Böse, das sich gegen das Gute wendet, und er sieht, dass sein gewählter Lebensentwurf ihn eventuell in Situationen des Leidens bringen kann. Er nimmt diese Perspektive mit Blick auf Jesus gläubig an.
In der "vierten Woche" betrachtet der Exerzitant die Auferstehung Jesu:
Er sieht das neue Leben, das Leiden und Tod besiegt hat. Sich selbst sieht er als erlösten Menschen, für den der "Himmel" schon begonnen hat, wenn auch noch gebrochen, verhüllt, fragmentarisch. Im Glauben lebt er schon aus Gott und in Gott. Weil Gott ihm so viel geschenkt hat, schenkt er sich ihm ganz zurück ...

Wann wären Exerzitien manipulativ?
Wenn man in den Übungen zu viel "machte" und so einen Erfolg, eine Erfahrung oder eine Erkenntnis erzwingen wollte, wenn der Begleiter ["Exerzitienmeister"] den Prozess aktiv zu steuern versuchte – was nicht gelingen kann, denn der innere Mensch ist zu autonom und würde schnell blockieren. Wenn bei Entscheidungen der Begleiter in eine Richtung drängte oder gar den Exerzitanten zu einer bestimmten Wahl überreden versuchte.
Gute Exerzitien sind nie manipulativ, denn der Prozess ist offen, für Exerzitant und Begleiter – der Geist darf sich mitteilen und führen, wie er will, und der Begleiter geht behutsam, zurückhaltend, nicht dirigierend den Weg mit.
Er hilft, den Prozess zu deuten und zu verstehen, aber greift nicht in ihn ein.


Menschen als Auftragsentdecker und -vollstrecker


Die spirituelle Pädagogik der Jesuiten (Rasputin, Hermogen und Iliodor, Pietro Tacchi Venturi SJ, Ludwig Kaas, Maltese Knights, Ho Chi Minh, Wojciech Jaruzelski, Fidel Castro, Albert Hartl, Robert Leiber SJ, Hermann Keller, Hermann Muckermann SJ, Georg Michael Pachtler) ist in dem Sinn neuzeitlich, als wirklich das Individuum mit seinen Gaben und Grenzen, mit seiner Lebensgeschichte und Sehnsucht einen Weg mit Gott geht. Das dahinter stehende Menschenbild könnte man das ignatianische nennen: Gott hat für jeden Einzelnen einen Auftrag. Diesen muss er – wegen der Verstrickung in das Böse und in die Lüge – mühsam zu erkennen suchen.
Wer den Auftrag entdeckt hat, soll ihm folgen, auch wenn ihn das bisweilen in Schwierigkeiten führt.
Der erfüllte Auftrag wird zum Segen werden für ihn und für die Menschen, denen er begegnet.


S. 53 ff.) Am klarsten: mobile Eingreiftruppe

Der Charakter des Buches [Satzungen] ist außergewöhnlich: Es ist ein Gesetzeswerk, das Strukturen und Regeln klar vorgibt, und zugleich ein spirituell inspirierender Text, der die Jesuiten anregt, persönlich und individuell den Geist des Ordens in die Praxis umzusetzen. Das Ineinander beider Textgattungen macht das Besondere aus.
Daher kann man an den Satzungen wohl am klarsten den Geist der Jesuiten erkennen: Sie sind strukturiert, kooperativ, hierarchisch, zielstrebig – und zugleich frei, individuell, mobil, offen für Neues. [...]
Welches ist – zusammengefasst – der Geist der Satzungen?
Immer wieder spricht Ignatius von "unserer Weise des Vorangehens" (noster modus procendendi).
Diese besteht darin, dass Jesuiten genau und vorurteilsfrei die Wirklichkeit wahrnehmen, dass sie anschließend gründlich, wie die Exerzitien sagen, "die Geister unterscheiden" – persönlich und sich mit anderen beratend – dass sie sodann klar entscheiden und schließlich zielstrebig das Vorhaben durchführen, und das alles im rechten Zeitmaß und mit den passenden Mitteln.
Die Mittel gilt es, auf die Ziele hin auszuwählen – und nicht umgekehrt. Die Maxime "Der Zweck heiligt die Mittel" steht nicht in den Satzungen und gilt zu Unrecht als jesuitisch, denn Ignatius will immer, dass man nur ethisch verantwortbare Mittel nutzt und nur zu guten Zielen. ("Sie sind überall, die 'Soldaten Christi' ...")


"Heil Cäsar!", "Heil Christus!" – Verherrlichung als Seelenheil


Erstes Ziel allen Tuns ist das "Heil der Seelen", was sich sowohl auf das "diesseitige" Heilwerden wie auf das ewige Heil bezieht. Die nächsten Ziele wie Gerechtigkeit, Barmherzigkeit usw. dienen diesem ersten Ziel.
Als Mittel, so Ignatius, sind diejenigen, die das Werkzeug – den Menschen – mit Gott verbinden, wirksamer als jene, die es gegenüber Menschen bereiten. Mit den ersten meint er "Güte und Tugend und besonders die Liebe die lautere Absicht des göttlichen Dienstes und die Vertrautheit mit dem Herrn in geistlichen Übungen und der aufrichtige Eifer für die Seelen um der Verherrlichung dessen willen, der sie geschaffen hat."
Mit den zweiten meint er Wissenschaft und andere natürliche Begabungen (Sa 813).


S. 57 ff.) Jesuitismus/Marxismus und die Moderne/Glasnost

Das Verhältnis der Jesuiten zum Papst reizt immer wieder zu Spekulationen. Wie hat es sich wirklich entwickelt? Schon zu Zeiten des Gründers war es nicht einfach nur devot und unterwürfig, sondern sehr differenziert:
Paul III. war ein Reformpapst, der den Orden förderte. 1555 wurde der Theatiner Kardinal Gian Pietro Carafa als Papst Paul IV. gewählt. Dieser war schon lange ein Gegner der Jesuiten – mächtig, jähzornig, unberechenbar.
Als Ignatius von seiner Wahl erfuhr, erzitterte er "bis in die Knochen seines Leibes" – so berichtet ein Mitarbeiter. Nach kurzem Gebet fand er jedoch seine Ruhe wieder. [...] Ignatius selbst war den Päpsten immer treu ergeben, konnte aber auch recht deutlich vor einem Papst seine Meinung artikulieren.
In den folgenden Jahrhunderten nutzten die Päpste meist recht gern die Dienste der Jesuiten. Selbst als 1773 Papst Clemens XIV. den Jesuiten befahl zu sterben, gehorchten sie brav, ließen sich aber ein baldiges Wiederauferstehen nicht nehmen. Von Mitte des 19. bis Mitte des 20. Jh.s war das Verhältnis des Ordens zu den Päpsten wie angedeutet sehr eng. Die Jesuiten unterstützten sie vehement in allen ideologischen Auseinandersetzungen der Zeit. [...] Unter Pius XII. besetzten Jesuiten viele Schlüsselstellen im Vatikan [...]
Seit dem ZVK war die Beziehung stürmischer geworden: Die Jesuiten wechselten – so erschien es vielen – von einer konservativ-papsttreuen zu einer liberal-papstkritischen Linie. Sie probierten allzu moderne Seelsorgemethoden aus, förderten die "Theologie der Befreiung" und engagierten sich sozial – das implizierte bisweilen auch marxistisches Gedankengut. Sie wollten die Kirche demokratisieren und modernisieren.


S. 61-64) Opus Dei und Opus Loyalität zu verschieden

Ein Wort zum Opus Dei und zu den neuen geistlichen Bewegungen: Das Opus als laikale und weltweite, konservative und durchaus elitäre Bewegung trat an mit der zwar nicht ausgesprochenen, aber untergründig doch spürbaren Haltung, die alten Orden in ihrem Auftrag abzulösen. Insbesondere die ihm in mancher Hinsicht nicht unähnlichen Jesuiten. [...] Das Verhältnis zu den Jesuiten war und ist, entgegen allen Spekulationen, aber doch eher ein Nichtverhältnis, denn beide Gemeinschaften sind – genauer betrachtet – zu verschieden, um sich ernsthaft Konkurrenz zu machen. Außerdem wirkt das Opus ("1982 als Personalprälatur errichtet") eher im Verborgenen und pflegt kaum Beziehungen zu anderen Gemeinschaften. ("Im Moment ist das Opus Dei die einzige Einrichtung der Kirche, welche den Status einer Personalprälatur hat.") In den letzten Jahren wurde es in Europa stiller um das Opus. Hingegen bestehen zwischen manchen der neuen geistlichen Bewegungen und den Jesuiten freundschaftliche Beziehungen. Einige dieser Gemeinschaften sind noch jung, schnell gewachsen und daher wenig gefestigt. Sie lassen sich bisweilen von der lange gewachsenen spirituellen und theologischen Kompetenz der Jesuiten helfen, etwa indem ihr Nachwuchs an Jesuitenuniversitäten studiert.


Das gehütete und das bemühte Individuum


Das 17. und 18. Jh. war die große Zeit der Moraltheologie. Vielleicht lag das daran, dass die klar geordnete, bergende und den Einzelnen führende christliche Gemeinschaft des Mittelalters zerbrochen war.
Nun war das Individuum gefragt, und in einer offenen und vielfach zerrissenen Welt musste es immer öfter und mit Mühen selbst entscheiden, wie und was zu tun war. [...]
Ein altes Problem der Theologie war, wie sich der freie Wille des Menschen und das göttliche Gnadenwirken zueinander verhalten. Die Jesuiten hatten nun in ihren Exerzitien eine Spiritualität, die den Einzelnen befähigen und ermutigen will, sich selbst frei zu entscheiden. Dazu bedarf er selbstverständlich der Hilfe der Gnade, aber er soll sein Eigenes – seine Erfahrung, Sehnsucht und Affekte, seine Urteilskraft und geistlichen Erkenntnisse – aktiv einbringen und so in einem inneren Prozess frei wählen. Er wird zum Mitarbeiter Gottes. Dieser im Thomismus gründende Ansatz rief Widerspruch hervor, nicht nur bei den Reformatoren – die dem freien Willen viel weniger und der allein wirkenden Gnade viel mehr zubilligten – sondern u.a. auch bei manchen Dominikanern.
Nach ignatianischem Ansatz zeigt sich jedoch die Größe Gottes ganz besonders in der freien Entscheidungsmacht des Menschen. Zwischen dem Dominikaner Banez und dem Jesuiten Molina kam es zum berühmten Gnadenstreit, der – manchmal ist das Lehramt weise – nie wirklich entschieden wurde.


S. 64 f.) Gott-Genossen mit jesuitischer Weite

Das ethische Problem ergibt sich aus dem theologischen: Wenn der Mensch der Exerzitien sich auf einem inneren, von der Gnade erleuchteten Weg begibt und so Mitarbeiter Gottes wird, muss er oft, weil die Umstände und seine Erkenntniskraft begrenzt sind, Entscheidungen fällen, die er zwar mit Wahrscheinlichkeit für richtig hält, für die er aber keine letzte Sicherheit hat. [...] Diese von Jesuiten vertretene Lehre nennt man den "Probabilismus" (lat. probabilis – wahrscheinlich). Würde man sie missbrauchen und unsichere Entscheidungen allzu leichtfertig fällen, öffnete man der Willkür Tor und Tür. Nicht nur der große Philosoph Blaise Pascal greift sie deswegen in seinen berühmten Lettres Provinciales als Laxheit an, immer wieder mussten Jesuiten sich diesem Vorwurf stellen.
Doch ist der Probabilismus letztlich eine Lehre der Barmherzigkeit:
Wer sich lauter und fromm um die wahrscheinlich beste Entscheidung bemüht, braucht nicht zu fürchten, im Falle einer Fehlentscheidung für eine Todsünde ewig verdammt zu werden.
Wenn heute den Jesuiten wieder Laxheit und Liberalismus vorgeworfen wird, so kommt diese jesuitische Weite – wenn man sie so nennen darf – letztlich aus der Exerzitienspiritualität:
Wer sich intensiv geistlich bildet, kann durch Unterscheidung der Geister, auch wenn es für den konkreten Fall keine klare moralische Regel gibt, von innen her manches klar sehen und entscheiden. Er geht eigenständig mit Gott einen Weg, zu einem radikalen und vertieften Engagement für die Welt. Streng konservative oder ängstliche Geister, die für alles Regel, Anordnung und Gehorsam einfordern und in allem nach Sicherheit streben, verstehen diesen Ansatz kaum. Er kommt aus einem hohen Vertrauen in die sittliche Kraft und Autonomie des Menschen – der sich allerdings in einem langen Weg von innen her reinigt, sich auf Gott und sein Reich hin ausrichtet und immer in dem von der Kirche definierten Rahmen bleibt.


03/02'10 Kiechle ist heute vom Generalsekretär Adolfo Nicolás zum neuen dt. Provinzial ernannt worden.
Am 1. September 2010 wird er sein Amt, welches auf sechs Jahre begrenzt ist, in München antreten.
Kiechle übernimmt damit turnusgemäß die Nachfolge von Stefan Dartmann SJ. Neben der administrativen Leitung der Ordensprovinz gehört es zu den zentralen Aufgaben des Provinzials, das regelmäßige Gespräch mit jedem Jesuiten über seine Arbeit und sein Leben im Orden zu suchen.

09/16'10 "Kiechle plädierte am Mittwoch im Rahmen des 'Kardinal-Höffner-Kreises' katho. CDU-Abgeordneter für die Zulassung von verheirateten Männern zum Priesteramt und für ein Nachdenken über die Weihe auch für Frauen. Zudem kritisierte Kiechle die Praxis von Ernennungen in der kirchlichen Hierarchie. Sie würden oft durch Beziehungen arrangiert und erinnerten fast an 'Korruption'. [...] Der Provinzial sprach von einer massiven Krise der Kirche, bei der es einen quantitativen und qualitativen Priestermangel gebe. [...] Erstmals schlage heute der Priestermangel 'voll durch'. Der Jesuit mahnte eine 'Auswahl, Ausbildung und Formung' von Priestern an. Viele heutige Kleriker seien kaum in der Lage, eine Leitungsaufgabe zu übernehmen. [...] Weiter sagte der Obere, die katho. Kirche solle in den kommenden Jahren Schwerpunkte setzen. An erster Stelle stehe eine 'Reduktion aufs Kerngeschäft', zu dem 'ordentliche und qualitätsvolle' Gottesdienste und Katechesen gehörten [...] Weitere Akzente müssten Barmherzigkeit und Zuwendung zu den Ausgegrenzten und Menschen am Rande sein. 'Das ist das Kerngeschäft der Kirche,' meinte er. "

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