March 5, 2011

Docta pietas – intellektualisierter Schriftglaube



Stefan Kiechle SJ: Wissen was stimmt – Die Jesuiten pt 4

pt 1 SJler sind die, die wissen was stimmt
pt 2 Ignatianische Schuldverstrickung im Weltmaßstab
pt 3 Irdische Bindung lediglich zum General(sekretär)


S. 87-90) Das älteste globalisierte Unternehmen der Welt

Der Jesuitenorden ist das älteste globalisierte Unternehmen der Welt, zentral geleitet und gesteuert, mit gut ausgebildetem, mobilem und hoch motiviertem Personal.
Im 16. Jh. war eine solche Konstruktion historisch erstmals möglich, weil das weltweite Postwesen gerade genügend funktionsfähig war, um die dafür nötige Kommunikation zu gewährleisten – vor dem 16. Jh. waren die Orden und auch die Weltkirche dezentral verfasst, und das mehr, als man heute vermutet.

[...] In den letzten Jahrzehnten haben die Generalkongregationen auch wichtige pastorale und theologische Impulse, die teilweise großen Widerhall in der Öffentlichkeit fanden. [...]
Wie wird ein Generaloberer gewählt?
220 delegierte Jesuiten kommen aus aller Welt zusammen, sie kennen sich kaum. Alle sind Kandidaten der Wahl, keiner strebt das Amt an. Jeder hat genau eine Stimme, keiner darf die Wahl ablehnen.
In einem viertägigen Gemurmel (lat. murmurationes) wird nun beraten: Es gibt keine Kandidatenliste, keine öffentliche Diskussion, man redet ausschließlich murmelnd in Zweiergesprächen über mögliche Kandidaten. Zwischendurch ziehen sich die Wähler immer wieder zum Gebet zurück. Nach vier Tagen und einer weiteren Stunde des gemeinsamen schweigenden Gebets wird geheim gewählt: Fast alle Generaloberen der Geschichte wurden im ersten oder zweiten Wahlgang mit absoluter Mehrheit gewählt – meist zur großen Überraschung des Gewählten selbst, denn dieser wurde im Gemurmel am wenigsten gefragt. [...]
Insofern wird der seit der Gründung international ausgerichtete Jesuitenorden zentral und hierarchisch, aber nicht autoritär geführt. Es gab nie Abspaltungen oder Reformzweige.


S. 91-94) Erst Philosophie, dann Theologie

Kandidaten müssen seit mindestens drei Jahren katholisch und ledig sein. [...]
Ein Eintritt mit über 35 Jahren wird in der Regel schwierig, weil die Persönlichkeit schon sehr ausgeprägt ist und nicht mehr leicht in den Geist des Ordens hineinfindet. [...]
Das Noviziat dauert zwei Jahre und hat drei Ziele: Der Novize soll den Orden tiefer kennen lernen, er soll in die Spiritualität hineinwachsen, und er soll verantwortlich entscheiden, ob er sich für ein Leben lang an den Orden bindet oder nicht. Er kann das Noviziat jederzeit verlassen, auch der Orden hat die Freiheit ihn zu entlassen.
Etwa die Hälfte der zwei Jahre verbringt der Novize im Noviziatshaus mit Unterricht, spirituellen Übungen und dem Einüben des Gemeinschaftslebens. Die andere Hälfte macht er Praktika außer Haus, u.a. ein Krankenpflegepraktikum, eine Pilgerfahrt, ein Seelsorgepraktikum und die 30-tägigen Exerzitien.
Der Novizenmeister begleitet ihn auf seinem persönlichen Weg, erteilt Unterricht, sendet ihn in die Praktika. Er ist zugleich Oberer und spiritueller Begleiter – der Novize übt mit ihm den vertrauensvollen Gehorsam ein. Am Ende des Noviziats bindet sich der Novize an den Orden durch die Ersten Gelübde – er legt sie auf Lebenszeit ab, anders als in den anderen Orden üblich, deren Mitglieder zuerst mehrmals "zeitliche" Gelübde – auf einige Jahre hin – ablegen, bevor sie zu den "ewigen" Gelübden gelangen.

Danach kommen für die "Scholastiker" – jene, die Priester werden – die Grundstudien: zwei bis drei Jahre Philosophie (für die deutschsprachigen in der Regel an der Ordenshochschule in München), danach zwei Jahre "Magisterium", ein Praktikum als Erzieher, Seelsorger oder in sozialer Arbeit in einer Einrichtung des weltweiten Ordens, danach drei bis vier Jahre Theologie, meist im Ausland an einer Hochschule des Ordens.
Diese Jahre dienen auch dem weiteren Hineinwachsen in den Orden, in die Kommunitäten und in die Lebensweise, auch mit internationalen Kontakten und Reisen. [...]
Meist macht man das Tertiat in einem weit entfernten Land, was den Horizont und die Kenntnis des Ordens noch einmal weitet. Nach dem Tertiat kommen die "Letzten Gelübde": Endgültig binden sich der Orden und der Jesuit aneinander. Der Generalobere selbst lässt den Jesuiten zu diesen Gelübden zu und legt seinen "Grad" im Orden fest. Die meisten Jesuiten legen gleichzeitig das sogenannte Vierte Gelübde ab, den ausdrücklichen Gehorsam gegenüber dem Papst "gemäß den Aussendungen".
Die Ausbildung des Jesuiten dauert also mindestens 10-15 Jahre.


S. 96 ff.) Jesusfanatiker zweiter Klasse

Ignatius wollte hoch gebildete, streng arm lebende, ganz spirituelle und total verfügbare Seelsorger in seinem Orden haben. [...] Bald merkte Ignatius jedoch, dass er – v.a. für die Kollegien – mehr Jesuiten brauchte. Diese durften auch weniger gebildet sein. Sie sollten für die Hausdienste, für einfache Seelsorge an den Schülern und für Unterricht da sein. Nun nahm er dafür weitere Jesuiten auf und nannte sie "Koadjutoren" (Helfer).
Es gab darunter Priester und Laienbrüder ("geistliche" bzw. "zeitliche" Koadjutoren). Sie lebten eher ortsstabil und in Häusern, die nicht ganz so arm waren – für große Schulen brauchte man feste Einkünfte und regelmäßige Versorgung. [...]
Aber auch unter Priestern gab es nun zwei Grade. Schwierig zu entscheiden war, welcher Priester zur Profess mit vier feierlichen Gelübden und welcher als Koadjutor mit drei einfachen Gelübden zuzulassen war.
Meist entschied man nach den Noten im Studium. Später war aber in den Tätigkeiten und in der Lebensweise von Professen und geistlichen Koadjutoren kaum mehr ein Unterschied. [...] Heute geht der Orden mit der Frage so um, dass man möglichst viele Priester zur Profess zulässt und außerdem den Koadjutoren intern so viele Rechte wie möglich – was das Kirchenrecht eben zulässt – gibt, also auch eine begrenzte Mitwirkung bei Kongregationen.


S. 99 ff.) Geheimagenten ihrer Majestät

Jesuiten haben kaum äußere Gemeinsamkeiten: kein Chorgebet, kein Ordensgewand, kein Kloster, keinen gemeinsamen Tagesablauf. Kommunitäten erscheinen daher nach außen wie unverbindliche Wohngemeinschaften. Auch in der Arbeit hat jeder seine Aufgaben und erledigt diese weitgehend selbständig, in einem persönlichen und oft recht eigenen Stil. Jesuiten sind auch viel auf Reisen, meist allein. [...]
Der Orden war immer stark in der – so sagt man heute – individuellen "Personalentwicklung".
Oft wird man versetzt – also ist es besser, sich nicht zu eng an Personen eines Ortes zu binden, sondern flexibel, unabhängig und damit mobil zu bleiben. Jesuiten gehen schnell Beziehungen ein und lassen sie bisweilen schnell wieder los
– was manche irritiert. Jesuiten sind oft starke Persönlichkeiten, manche bleiben ein Leben lang Einzelkämpfer – Spötter sprechen von den Künstlerjesuiten, den jesuitischen Ich-AGs.
[...] Die Basis der Gemeinschaft ist letztlich die Kommunikation: das Anteil geben und das Anteil nehmen am anderen, ein intensiver Austausch auch über persönliche und geistliche Erlebnisse, regelmäßige kleinere und größere Treffen [...] Die Eucharistie, mehr oder weniger oft gemeinsam gefeiert, verbindet nochmals tiefer untereinander und mit Christus. Dieses Ideal verwirklicht sich oft nur teilweise, doch ist der Orden als ganzer in einem Lernprozess, der das frühere Gemeinschaftsdefizit nach und nach abzubauen hofft.
Ignatius und die ersten Jesuiten nannten sich "Freunde im Herrn".


S. 102-105) Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – und Frömmigkeit

Der inhaltlich wichtigste Akzent der 32. Generalkongregation 1974/75 war das Dekret Nr. 4, in dem der Orden seine Sendung als "Dienst am Glauben und Förderung der Gerechtigkeit" definiert. [...] Alle Arbeitsfelder des Ordens sollen so entwickelt werden, dass man sich zukünftig ebenbürtig für die soziale Gerechtigkeit einsetzt. Ansätze und Anliegen der Befreiungstheologie bekamen hier ein weltweites Gewicht.
Der Orden hatte sich schon immer für Arme eingesetzt, aber hier wurde dies programmatisch zur Priorität erklärt – eine "weltlose" Glaubensverkündigung, die soziale Probleme ignoriert, kann nicht christlich und jesuitisch sein. Die 32. GK war ein Paukenschlag, von vielen bejubelt, von manchen misstrauisch und kritisch beäugt. War der Orden endgültig auf linke und sozialistische, letztlich das Materielle überbewertende, also atheistische Theorien hereingefallen? Die Jesuiten waren und sind jedoch überzeugt, dass sie mit der 32. GK nur das Evangelium zeitgemäß verkündeten.

# Kein Dienst am Glauben ohne Förderung der Gerechtigkeit, Eintritt in Kulturen, Offenheit für andere religiöse Erfahrungen.
# Keine Förderung der Gerechtigkeit ohne Glauben mitzuteilen, Kulturen umzuwandeln, mit anderen Traditionen zusammenzuarbeiten.
# Keine Inkulturation, ohne sich über den Glauben auszutauschen, mit anderen Traditionen in Dialog zu treten, sich einzusetzen für Gerechtigkeit.
# Kein Dialog, ohne den Glauben mit anderen zu teilen, Kulturen zu untersuchen, Sorge zu tragen für Gerechtigkeit. (Dekret 2)

[...] Die 35. GK wählte Adolf Niklas zum neuen General, erneuerte das Gehorsamsverständnis und verabschiedete einen programmatischen Text: "Ein Feuer, das weitere Feuer entzündet – unser Charisma wiederentdecken."


S. 106-111) Jesus der humanistische Christus

Das erste Kolleg wurde 1548 in Messina gegründet, schon beim Tod des Ignatius 1556 gab es 46, wenige Jahrzehnte später Hunderte Kollegien in ganz Europa und in Übersee.
Jesuiten hatten bald erkannt, dass die spirituellen Ideale der Exerzitien am wirkungsvollsten und nachhaltigsten über die Erziehung von Kindern und Jugendlichen in den Herzen der Menschen verwurzelt wurden. Europa hatte einen Hunger nach qualifizierter Bildungsarbeit, sodass die Schularbeit zum bevorzugten Mittel der Jesuiten wurde, "den Seelen zu helfen".
Die Lehrmethoden der Jesuiten waren großenteils nicht neu, sie wurden aus der Tradition übernommen, aber neu kombiniert und fruchtbar gemacht. Was man als Modus Parisiensis bezeichnete, hatten die ersten Gefährten selbst als fruchtbar erfahren: Schüler repetierten systematisch den Lernstoff, je nach Niveau der Schüler gab es Klassenstufen mit klaren Lehrplänen, es gab Prüfungen und einen dauerhaft zuständigen Lehrer – heute erscheinen diese Elemente selbstverständlich, so sehr haben sie sich in der allgemeinen Pädagogik verwurzelt.

Das Bildungsideal der Jesuiten war dem Humanismus entnommen: Man verband altsprachliche Bildung mit ethischer Verantwortung, welche damals selbstverständlich religiös eingebettet blieb. Neu war das eindeutige konfessionelle Profil: Jesuiten erneuerten und vertieften in ihren Kollegien den katholischen Glauben. Viele katholische Landesherren fragten sie wegen dieser klaren Identität an, in ihren Städten Kollegien zu betreiben – protestantische Landesherren gründeten an ihren Orten ähnliche Schulprojekte. Ihre Exerzitienspiritualität übersetzten die Jesuiten in den Schulalltag, etwa mit Theaterspielen und Prozessionen, in denen die Bildhaftigkeit und Sinnlichkeit des Katholischen besonders erfahrbar wurde.
Nachdem in den ersten Jahrzehnten pädagogisch überall experimentiert wurde, gab der Orden nach einer langen Erprobungsphase und nach intensiven Beratungen 1599 eine zentrale Schul- und Studienordnung heraus, die berühmte Ratio atque Institutio Studiorum Societas Iesu.
Ganz genau wurden der Schulalltag, die Lehrpläne, die Methodik usw. geregelt.
Das Werk wurde pädagogisch prägend für Jahrhunderte, auch weit über den Jesuitenorden hinaus.

Was sind die Kennzeichen der Jesuitenschulen in aller Welt?
# Das Ideal der docta pietas, der "gelehrten Frömmigkeit", so schon in der Ratio von 1599 ausgedrückt:
Man verbindet spirituell vertieften christlichen Glauben und hohe Intellektualität und Gelehrsamkeit.
# Erziehung zur Selbständigkeit und Eigenverantwortung
# Arbeit mit Multiplikatoren, die in Gesellschaft und Kirche Verantwortung übernehmen sollen und dadurch christliche Werte durchsetzen.
# Integration von Sinnen und Geist, von Körper und Seele, von Affekt und Verstand, von Theorie und Praxis.
# Arbeit mit "Experimenten" – heute würde man "Praktika" sagen – die gut ausgewertet und reflektiert werden.
# Heute besonders die Weckung sozialer Sensibilität, die Motivation zum Einsatz für Arme und zum Kampf für Gerechtigkeit und Frieden, die Öffnung für interkulturellen und interreligiösen Dialog.
# Nach Möglichkeit kostenfreie Bildung für alle, die begabt und motiviert sind.
Bis vor einigen Jahrzehnten waren Jesuitenschulen recht elitär: [...]
Im Zuge der Öffnung für Fragen der Gerechtigkeit gründete man eigene Schulwerke für Arme.

Erziehen Jesuiten Diktatoren? Nicht nur Robert Mugabe und Fidel Castro waren in der Tat Jesuitenschüler – es ließe sich mancher zweifelhafte Machthaber der Geschichte in die Liste einreihen.
Das alte Eliteprinzip, auf hohem Niveau Leistungs- und Verantwortungsträger auszubilden, um so christliche Werte in die Gesellschaft einzupflanzen, zeigt hier natürliche Schwächen. Wer intellektuell brillant ist, kann seine gut gemeinte, ganz wertorientierte Erziehung verkehren und zum äußerst wirksamen Teufel werden. [...] Menschliches Tun, auch mit der besten Absicht, hat keine Erfolgsgarantie. [...]
Die Geschichte der Jesuiten ist nur ein Beispiel für alle Geschichte.


S. 112) Die es den Seelen besorgen

Jesuiten sind ganz auf die Seelsorge hin ausgerichtet, was im 16. Jh. nur für Priester, also nur für Männer, denkbar war. Frauenorden konnte man sich damals nur streng klausuriert, d.h. in klösterlicher Abgeschiedenheit, vorstellen, und genau so lebten in jener Zeit die "Frauenzweige" anderer Orden. "Tätige", also sozial oder seelsorgerlich aktive Frauenorden, gab es erst seit dem 17. Jh., in großer Zahl dann ab dem 19. Jh.
Ignatius scheute außerdem die seelsorgerliche Verpflichtung, die damals andere Männerorden für ihre jeweiligen klausurierten Frauenzweige zu erfüllen hatten.


S. 114) Gemeinschaft Christlichen Lebens

Führend war die GCL in der Wiederbelebung der ursprünglichen ignatianischen Form der Exerzitien.
Im deutschsprachigen Raum bietet die GCL viele Exerzitienkurse an, sie bildet auch selbst, in Zusammenarbeit mit Jesuiten, Laien zu Exerzitienbegleiterinnen und -begleitern aus.

Ignatius von Loyola – Mystiker und Manager (echter)

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